Mein gesamtes Berufsleben habe ich in der öffentlichen und privaten Forschung zugebracht. Als Chemikerin, Biologin und Ärztin arbeitete ich an biomedizinischen und medizintechnischen Themen. Heute bin ich im aktiven Ruhestand und engagiere mich in verschiedenen Ehrenämtern.
Über das Fibonacci Mentoringprogramm las ich in einer Berliner Tageszeitung. Da mir ein früher und breiter Zugang zu Bildung ein Herzensanliegen ist, sprach mich das Konzept an, bei Kindern Interesse für Mathematik, Naturwissenschaften, Musik, Sport und Sprachen zu wecken bzw. zu verstärken. So nahm ich Kontakt zum Programm auf.
Meine erste Schülerin kam aus der Ukraine. Katia [Name geändert] war schon drei Jahre vor dem Ukrainekrieg als 10-Jährige ohne Deutschkenntnisse mit ihren Eltern nach Berlin gezogen. In kurzer Zeit hatte sie es von einer Willkommensklasse in den Regelunterricht geschafft. Dort wurde sie schnell eine der Klassenbesten. Als wir uns kennenlernten war sie 13 Jahre alt und ging in die 7. Klasse. Zu ihren Hobbies zählten Tanzen und Volleyball, was sie aber seit ihrem Umzug nach Berlin nicht mehr ausübte.
Katia hatte einen langen Schulweg und einen eng getakteten Stundenplan. Deshalb fanden unsere Treffen überwiegend als Videokonferenzen statt. Da wollte sie vor allem an ihrem deutschen Wortschatz feilen, sowie Aussprache und Grammatik verbessern. Ihre schriftliche Ausdrucksweise übte sie mit gelegentlichen Emails.
Als nach Beginn des Ukrainekrieges viele schulpflichtige Kinder nach Berlin kamen, bürdete die Schule der 13-Jährigen die Verantwortung für zwei neue ukrainische Klassenkameraden auf. Deren Ehrgeiz schien eher gering zu sein, weshalb Katia oft deren Hausaufgaben mit übernahm. Nicht nur durch schulische Verpflichtungen wurde Katia schnell erwachsen. Für ihre Mutter übersetzte sie regelmäßig und erledigte allerlei Termine. Dann entschied sich jedoch die Mutter zu einem Deutsch-Intensivkurs. Gleichzeitig fanden sich zwei Vereine, in denen die Tochter wieder ihren Hobbies nachgehen konnte. Damit endete unsere gemeinsame Zeit.
Es folgte ein 7-jähriger Junge. Dino [Name geändert] durfte eine Klasse überspringen und war schon im dritten Schuljahr als wir uns kennenlernten. Im Unterricht langweilte er sich und war auf dem Weg zum Schulverweigerer. Aber er liebte alles, was neu war und alles, was wir machten, war neu für ihn.
Ob Seilspringen oder Weitsprung im Garten, Zahlen auf Spanisch lernen, chinesische Schriftzeichen erkennen, Bilderrätsel, Wörtersuche oder Ausflüge in die nähere Umgebung, alles machte ihm Spaß. Aber nichts konnte Dino mehr begeistern als basteln und experimentieren. Ein Floss aus Bambusrohr für den Gartenteich, ein Knatterboot aus Styropor mit Dampfantrieb, selbst gelötete Elektroantriebe für diverse Plastikfahrzeuge, eine bunte Flaggenparade aus gefärbtem Zuckerwasser unterschiedlicher Dichte oder selbst hergestellte essbare Gelkügelchen.
Da Sport, Ausdauer und soziale Kontakte in Dinos Alltag zu kurz kamen, wurde versucht, ihn für einen Sportverein zu interessieren. Das gelang mit einem Schwimmverein. Der gefiel ihm gut und der Verein meinte Talent zu sehen, das er mit wöchentlich dreimaligem Training fördern wollte. Diese zeitintensive neue Beschäftigung und ein Umzug der Mutter beendeten die wöchentlichen Treffen mit diesem wissensdurstigen Kind.
Jetzt bin ich gespannt, welches Kind ich im neuen Schuljahr ein Stück weit begleiten darf.