Der schwere Weg aus dem Underachievement
„Wir hatten große Not…“
Wir sind eine Familie in Berlin, die sich über zwei hochbegabte Kinder freuen kann. Eine der beiden ging schon immer gerne zur Schule, übersprang zu Beginn der 2. Klasse ein Schuljahr, ohne dass man von Hochbegabung sprach oder über einen entsprechenden Test nachdachte. Bei der Erstgeborenen sahen wir uns mit dem Problem des Underachievements konfrontiert: Ab der 3. Klasse zeigte Hanna deutliche Anzeichen der Langeweile, äußerte , ihr würde die Schule keinen Spaß mehr machen. Sie wirkte sehr verträumt, oft unzufrieden, erbrachte aber noch sehr gute schulische Leistungen. Ab Beginn der 4. Klasse wurde zunehmend deutlicher erkennbar, dass sie sich von Gleichaltrigen unterschied. Ihre schnelle Auffassungsgabe und Verarbeitung von Informationen verblüffte uns immer mehr und wir wurden uns sicherer, dass sie zur 5. Klasse auf ein Gymnasium wechseln sollte.
Hier begann sich abzuzeichnen, dass sie ohne erkennbaren Grund zu straucheln begann. Unsere Tochter bemühte sich, Leistungssituationen zu vermeiden, spürte mit großem Unbehagen, dass sie irgendwie nicht passte. Wir konnten ihre Schwierigkeiten nicht wirklich nachvollziehen, waren wir doch überzeugt davon, sie würde jegliche Voraussetzungen in sich tragen, den Anforderungen des Gymnasiums mühelos zu genügen. Ihre Abwehr steigerte sich, ihr Selbstwertgefühl und Selbstkonzept verschoben sich. In einigen Fächern sanken die Leistungen drastisch. Seitens der Lehrerschaft wurde uns mit Schulterzucken begegnet, man müsse sich wohl keine Sorgen machen, sie solle weniger träumen und zeichnen im Unterricht, dann würden auch keine Wissenslücken entstehen. Rat- und hilflos sahen wir zu, wie sie Vermeidungsstrategien entwickelte, Hausaufgaben beinahe ausschließlich verweigerte, Symptome wie Bauchschmerzen, Kopfschmerzen und Übelkeit zum Alltag gehörten. Immer häufiger wurden wir angerufen, sie müsse nach Hause geschickt werden. Die Tage, an denen sie die Schule gar nicht erst betreten wollte, häuften sich.
Eines Tages bekamen wir einen denkwürdigen Anruf, unsere Tochter hatte – von uns unbemerkt – 7 Tage die Schule geschwänzt. Ein Besuch bei der Schulpsychologin war nun unumgänglich. Da unser Kind nicht wusste, was der Ursprung ihres Kummers war, wurde vermutet, dass sie unter Hänseleien leiden könnte. Doch jetzt wurde uns dazu geraten, sie einem IQ-Test zu unterziehen. Ihre hohe Begabung und ein breitgefächertes Profil wurden deutlich.
Nun schien sich alles zusammenzufügen, endlich gab es eine Antwort auf all unsere Fragen. Nach anfänglicher Euphorie, jetzt könne man etwas für sie tun, machte sich schnell Verzweiflung breit. Von der Klassenlehrerin bekamen wir den ehrlichen Rat, sie so schnell wie möglich umzuschulen, man könne dieser speziellen Problematik an der Schule nicht begegnen. Jedoch schien es einfach unmöglich, eine Schule zu finden, die unsere Tochter aufnehmen konnte. So begann die schwerste Zeit für die ganze Familie, immer wieder Versuche, etwas zu bewirken, weiterhin große Enttäuschung, dass an ihrer Schule keine Förderung möglich wurde. Ein Wechsel an ein anderes Gymnasium schien illusorisch. Bis wir eine geeignete Schule ausfindig machen konnten, an der sich Lehrer mit spezieller Ausbildung zutrauten, Raum für Möglichkeiten zu öffnen, vergingen Wochen des Bangens und größter Sorge um das seelische Wohlergehen unserer Tochter. Es war sehr hart für uns, hilflos zusehen zu müssen, wie ein so kluges, kreatives, humorvolles, einst sehr offenes und zugewandtes Kind immer mehr den inneren Rückzug antrat. Sie fühlte sich unheimlich einsam, mochte nicht gerne unter Menschen gehen. Sie begann uns mit Sinnfragen zu konfrontieren. Aus Sorge wurde Angst vor totaler Resignation.
In dieser schwersten Zeit stand uns dank des Fibonacci-Programmes Samira zur Seite. Samira kommt aus dem Iran und hat einen Abschluss in Medizintechnik und einen MBA. Ich war überglücklich über die Möglichkeit dieses Kontakts. Es stellte sich schnell heraus, dass beide sich mögen. Die Unmöglichkeit unserer Tochter, in ihrer Peergroup innige und anhaltende Freundschaften zu schließen, machten die Treffen mit Samira so wertvoll. Von gemeinsamen Unternehmungen kam Hanna strahlend zurück und wir spürten, dass ihr die Begegnungen eine ordentliche Portion Zuversicht gaben. Besonders beeindruckt war ich von der Herzlichkeit, mit der die Mentorin unserer Tochter begegnete. Herzlichen Dank dafür.
Heute besucht Hanna eine Sekundarschule in Malchow mit erweiterter Oberstufe, in der sie sich sehr wohlfühlt. Für uns ist es eine unglaubliche Erleichterung, den Tag wieder guter Dinge beginnen zu dürfen und ich möchte mir ungern vorstellen, wie es wohl ohne Hannas Mentorin Samira gewesen wäre, die anstrengenden Monate durchzuhalten.